Wir haben Prof. John Hattie um ein Interview für unsere deutschsprachige Plattform zu „Visible Learning“ gebeten und freuen uns, dass er sich so offen und schnell bereit erklärt hat – trotz vollem Terminplan und neun Stunden Zeitverschiebung – unsere Fragen zur Umsetzung von Visible Learning in deutschen Schulen zu beantworten („Always happy to talk“). Die Fragen stellte Regine Berger, die u. a. an der Führungsakademie des HKM Seminare zur Umsetzung der Erkenntnisse der Hattie-Studie im Schulalltag leitet.
Regine Berger: Welche Unterschiede bestehen zwischen einzelnen Ländern in Bezug auf Visible Learning? Wie können deutsche Schulen die Ergebnisse Ihrer Meta-Studie nutzen?
John Hattie: Eine Schlüsselfrage bei dem Versuch zu verallgemeinern ist das Gleichgewicht bestehend aus zwischen- und innerschulischer Varianz. Mir scheint, man kann leichter verallgemeinern, wenn es mehr innerschulische Varianz gibt als bei Unterschieden zwischen den Schulen. Ich bin mir also nicht sicher, ob sich Deutschland voll und ganz in das Modell einfügen lässt. Bei stärkeren Unterschieden zwischen den Schulen können strukturelle Aspekte eine immer gewichtigere Rolle einnehmen. Ich nenne hier zum Beispiel die beeindruckenden Verbesserungen bei Deutschlands Nachbarn Polen. Schlicht und einfach, weil sie den selektiven Charakter ihrer weiterführenden Schulen abgeschafft haben.
Regine Berger: Ist Visible Learning für jedes Alter gleich gut geeignet? Welche altersspezifischen Unterschiede sollten Schulen bei der Umsetzung von Visible Learning beachten?
John Hattie: Ich habe mich für 4- bis 20-Jährige interessiert und war bei jeder Einflussvariablen sehr bemüht, Moderatorvariablen zu finden, fand aber in der Tat nur sehr wenige. Die Schilderung der Zusammenhänge, die den Daten zugrunde liegen, scheint für die gesamte hier genannte Altersgruppe anwendbar.
Regine Berger: Was sind die Meilensteine, um die Big Points der Hattie-Studie zu implementieren? Worauf würden Sie am stärksten fokussieren?
John Hattie: Der Schlüssel ist für mich die Geschichte, die den Daten zugrunde liegt, nicht die Daten selbst. In meinem neueren Buch „Visible Learning for Teachers“ (Dezember 2012) habe ich viel mehr Zeit darauf verwendet, die Zusammenhänge zu verdeutlichen und die Daten zu minimieren, ohne sie zu ignorieren.
Regine Berger: Wie können Lehrer lernen, Feedback zu geben und zu empfangen und zwar in angemessener Form und zur rechten Zeit? Wie bildet man Lehrkräfte am besten darin aus?
John Hattie: Es gibt drei Dinge, die ich über Feedback gelernt habe und die wichtig sind.
Erstens denke ich bei Feedback an etwas, das man erhält, nicht gibt. Und zweitens, während die Lehrer Feedback als Korrektur, Kritik, Anmerkung und Klarstellung ansehen, gilt für die Schüler: Wenn Feedback keine Informationen zu den nächsten Schritten enthält, neigen sie dazu, es nicht zu nutzen. Schüler wollen Feedback für sich selbst, genau zur richtigen Zeit, sodass es ihnen einen Schubs gibt und hilft weiterzukommen. Wir müssen uns mehr Gedanken darüber machen, wie das Feedback beim Schüler ankommt, anstatt einfach die Menge an Feedback zu erhöhen. Und eine dritte wichtige Erkenntnis lautet: Wenn Lehrkräfte mehr Feedback über die eigene Wirksamkeit erhalten, dann sind die Schüler die größten Nutznießer.
Regine Berger: Wie sehen Sie die zukünftige Rolle der Lehrer? Wie wird sie sich durch Visible Learning ändern?
John Hattie: Es gibt ein erweitertes Rollenverständnis für Lehrkräfte, weil Schüler Feedback benötigen. Sie brauchen Anleitung auf unterschiedlichen Ebenen tiefer und weniger tief gehend. Lernen ist harte Arbeit und erfordert eindeutiges Unterrichten. Lernen bedarf gezielter Übung, Konzentration, Ausdauer, und dies sind Fertigkeiten die gelehrt werden müssen.
Regine Berger: Was würden Sie Lehrkräften raten, die Visible Learning gleich morgen in ihrem Unterricht ausprobieren möchten?
John Hattie: Fangen Sie an, sich Rückmeldung über Ihre eigene Wirksamkeit geben zu lassen. Sagen Sie: „Ich will herausfinden, wie gut ich unterrichte. Wer hat was gelernt, was nicht, über was, ist es wirksam, wohin geht der nächste Lernschritt …“ Dies ist ein hervorragender Ausgangspunkt. Und bitte lesen Sie „Visible Learning for Teachers“, das noch genauer darauf eingeht.
Regine Berger: Haben Sie Erfahrungen mit neuen Technologien, zum Beispiel Video, um Visible Learning zu ermöglichen?
John Hattie: Ich habe eine Menge Zeit mit dieser Frage zugebracht und denke, es ist ein Fehler, nur darüber nachzudenken, wie wir Technologie zum gegenwärtigen Zeitpunkt hinzufügen – aber der eigentliche Unterricht ändert sich kaum. Wenn wir darüber nachdenken, wie wir direkten Unterricht und technische Möglichkeiten miteinander verknüpfen, sind die Gewinne größer. Das ist aber eine bedeutende Veränderung. Der letzte Punkt ist atemberaubend, aber selten.
Regine Berger: Last not least, wann werden Ihre Bücher auf Deutsch veröffentlicht?
John Hattie: Soweit ich weiß, ist die Arbeit an der deutschen Ausgabe in vollem Gange. Ich werde aber den letzten Stand erfragen.
Regine Berger arbeitet am Institut für angewandtes Schulmanagement in Stuttgart. An der Führungsakademie des Hessischen Kultusministeriums leitete sie Seminare zur Umsetzung der Erkenntnisse der Hattie-Studie im Schulalltag. Sie hat im Beltz-Verlag zu den Themen Feedback nach Hattie, Selbstevaluation und Gewaltprävention veröffentlicht. In einem Beitrag der Zeitschrift Grundschule setzt sie sich intensiv mit der Hattie-Studie und dem Thema „Feedback“ auseinander.